„Anweisungen zur Behandlungen der Krankheiten der Seele“. Kommt das bekannt vor? Es kommt bekannt vor! Es klingt nach dem, was Papst Franziskus vor einem Jahr seiner Kurie mit auf den Weg gegeben hat. Wir waren alle beim Hören und Nachlesen erstaunt, dass er nicht bei seinen gewohnten drei Punkten blieb, sondern immer weiter machte. Aber warum waren es fünfzehn? Und was für eine Art Beichtspiegel war das? Als Beichtspiegel hat das mir gegenüber Kardinal Walter Kasper bezeichnet, der damals vor einem Jahr dabei war.
Schließlich habe ich – dank meiner klugen Mitbrüder – einen Text gefunden und gelesen, der mich erstaunt hat. Eben weil er „Anweisungen zur Behandlungen der Krankheiten der Seele“ heißt und genau fünfzehn solcher Krankheiten beschreibt. Er stammt vom damaligen Generaloberen der Jesuiten Pater Claudio Aquaviva und stammt aus dem Jahr 1600. Ja, richtig gelesen, der Text ist über 400 Jahre alt.
Nun geht das auf eine lange und reiche Tradition zurück und Aquaviva war nicht der erste und nicht der letzte, solche Listen zu schreiben. Aber die Zahl fünfzehn lässt mich dann doch aufhorchen. Nun mag ich nicht behaupten, Papst Franziskus habe den Text angewandt oder auch nur gekannt, aber dass es eine Tradition gibt, wird dieser Kenner der geistlichen Tradition des Jesuitenordens Pater Jorge Mario Bergoglio wissen. Er hat in Argentinien einiges dazu publiziert, er kennt also die Tradition. Wer den Text selber nachlese möchte, kann das in der Reihe „Geistliche Texte SJ“ tun, Pater Thomas Neulinger SJ hat 2002 eine deutsche Übersetzung herausgegeben, aus der ich hier auch zitiere.
Pater Claudio Aquaviva
Der Text war jahrhundertelang so bekannt, dass er in die Regelbücher des Ordens eingegangen ist. Bekannt ist vor allem die Überzeugung „fortiter in re, suaviter in modo“, „stark in der Sache und milde in der Art“, die dem zweiten Kapitel „Die Verbindung von Milde und Wirksamkeit“ entnommen ist. Wörtlich heißt es dort „damit wir sowohl stark sind im Verfolgen des Zieles als auch mild in der Art und Weise, [es] zu erreichen“. Man merkt, es geht Aquaviva vor allem um Leitung, nicht um Selbstreflexion des Einzelnen.
„Die Kurie ist gerufen, sich zu bessern, immer zu verbessern und in Gemeinschaft, Heiligkeit und Weisheit zu wachsen, um ihre Aufgabe ganz und gar erfüllen zu können. Und wie jeder menschliche Körper ist sie auch Krankheiten ausgesetzt (..) Hier möchte ich einige dieser möglichen Krankheiten nennen, kuriale Krankheiten.“ Originalton Papst Franziskus am 22. Dezember 2014. Aquaviva geht es 1600 aber um das Individuum, nicht um eine Gruppe. Und es geht ihm um Leitung, wie ich schon gesagt habe. So wie das Exerzitienbuch des Ignatius nicht für den Beter gedacht ist sondern für den Begleiter, so sind diese Regeln für den Oberen und den Beichtvater gedacht.
Was den alten Text von seiner Adaption durch Papst Franziskus außerdem unterscheidet ist die Tatsache, dass auf die ‚Krankheiten‘ selber kaum eingegangen wird. Pater Claudio Aquaviva nennt sie in den Kapitel-Überschriften und setzt sie dann als erkannt voraus. Seine Kapitel befassen sich dann mit den Rezepten, wie ihnen zu begegnen ist, sehr konkrete Anweisungen ganz im Sinn der Unterscheidung der Geister, wie wir sie auch in der Tradition des Exerzitienbuches des heiligen Ignatius von Loyola finden, und wie sie auf die Kirchen- und Wüstenväter zurück gehen. Ich zitiere: „Sobald er während des Examens schlechte Früchte dieser verderblichen Wurzel (es geht hier um die Liebe zu Auszeichnungen und Ehre) sieht, wende er sich ihr sofort zu, tadle sich in diesem Punkt, seufze darüber und schreibe niemals seine Schwäche einer anderen Ursache zu, vor allem nicht der Schuld anderer.“ Das möchte man gleich unterschreiben: Niemals den anderen die Schuld in die Schuhe schieben. Und wenn man das wirklich macht, wenn man sich wirklich hinsetzt und sich darüber ehrlich und im Gebet Rechenschaft ablegt, dann seien diese ‚Krankheiten‘ zu heilen.
Alles sehr konkret
An dieser Stelle müsste man über den Krankheitsbegriff der Frühneuzeit sprechen und darüber, was sich seitdem verändert hat. Wir können ‚Krankheit‘ nicht einfach gleichsetzen, damals wurde der menschliche Körper nicht wie heute als vom Rest losgelöst zu behandelndes etwas, quasi als Maschine betrachtet. Medizin war etwas ganz anderes, Ärzte gab es nicht in unserem Sinn etc. Das würde an dieser Stelle zu weit führen. Ich will nur sagen, dass zu all der Fremdheit, die wir beim Lesen erfahren, diese Schwelle auch noch dazu kommt.
Was sind das noch an ‚Krankheiten‘? „Neigung zu Sinnengenuss und Vertraulichkeiten“, „Laxheit in der Beobachtung der Regeln und ein sehr wenig gottesfürchtiges Gewissen“, oder auch „Streben nach Ruhe und Ablehnung von Diensten“, gemeinhin Faulheit genannt. Bekannt mag auch „Weltlichkeit und Interesse am höfischen Leben“ vorkommen, wenn man „höfisch“ durch unsere heutigen gesellschaftlich relevanten Gruppen ersetzt. Eindeutig ist auch „ Starrsinn und streitsüchtige Härte im Urteil“.
Aquaviva richtet sich an die Oberen, nicht an die ‚Kranken‘ selber, wie oben schon gesagt. Also gewissermaßen an die Ärzte, nicht dir Kranken, wenn man im Bild bleiben will. Und deswegen stellt er seinem Text auch eine wichtige Regel vorweg, die gewissermaßen die ganze Idee und die Dynamik des Textes erklärt: „Bei Krankheiten des Körpers erkennt und spürt derjenige, der leidet, die Krankheit am stärksten. Er ist es, der sich von allen am meisten wünscht, geheilt zu werden, und den Arzt herbei ruft. Da er sich danach sehnt, gesund zu werden, lehnt er kein Medikament ab, auch wenn es noch so bitter und unangenehm ist. Bei der Seele verhält es sich allerdings umgekehrt: alle erkennen seine Krankheit, nur er [selbst] nicht, sodass er den Arzt meidet und eine Behandlung kaum zulässt. Daher muss man sich im Blick auf die Behandlung vor allem darum bemühen, dass er die Krankheit (an)erkennt.“ Der größte Feind dieser ‚Krankheiten der Seele‘ ist also die Überzeugung, gar nicht krank zu sein.
Nun muss man aber bei Aquavivas Text sich immer vor Augen halten, dass er in den Orden hinein gerichtet ist, es geht um Gehorsam gegenüber dem Oberen und der Ordensregel und so weiter. Das gilt natürlich nicht nach außen. Aber es ist eine Tradition, die es im Orden gegeben hat, eine Weiterschreibung der Exerzitien in den Alltag des Ordenslebens. Nun ist die päpstliche Kurie nicht der Orden, aber alles geistliches Leben beruht auf einigen geistlichen Prinzipien, und die kann man anfragen. Und das hat Papst Franziskus vor einem Jahr getan. Und wie bei Aquaviva so gilt auch bei der Gewissensrechenschaft von Papst Franziskus, was bereits 1600 wahr war: „ eine äußere Zurechtweisung bewirkt nichts, wenn nicht ein innerer Antrieb mitwirkt.“